Venedigs Glas-Conte – FALSTAFF LIVING

Das elegante Riva-Boot hält mit gurgelndem Motor am Steg. Giberto Arrivabene strafft das Seil und heißt uns erneut willkommen. Wird sind am Weg nach Murano, jener kleinen Insel im Norden Venedigs, wo seit dem 14. Jahrhunderten das edelste Glas der Welt gefertigt wird.  Auch der »Glas-Conte«, wie wir ihn mittlerweile nennen, arbeitet dort mit einigen Glaskünstlern an seinen Kreationen. Für seine speziellen Projekte wie die Glasnachahmung der antiken Schönheit Paolina Borghese wurde Muranos exzentrischer Künstler Giorgio Giuman beauftragt. Mit ihm werkt der Conte bereits seit Jahren erfolgreich als gut eingespieltes Team – zwei starke Persönlichkeiten, die sich ergänzen. Arrivabene liefert das Design, Giuman führt aus. Rund hundert kleine Betriebe sind in Murano aktuell mit den Handwerksgeheimnissen der Muranoglas-Fertigung betraut. Ursprünglich wurden diese über Jahrhunderte von Vater zu Sohn weitergegeben, eine zehnjährige Lehre war dabei Voraussetzung, und nur die Besten hielten bis zum Ende durch. Die körperlichen Anstrengungen, bis man sich als Glaskünstler titulieren darf, sind immens, das Einatmen der giftigen Ausdünstungen der Brennöfen kann sich auf die Gesundheit besonders schädlich auswirken.

Auch bei Giuman sind die beiden Söhne bereits in das lebensgefährliche Prozedere in- volviert und formen tagtäglich mit einer Selbstverständlichkeit Glasobjekte. Ermüdungsanzeichen? Auf keinen Fall! Denn das hübsche Resultat ist alles, was zählt.

Giberto Arrivabene führt aus: »An einem Stück arbeiten meist mehrere Männer zusam- men. Sie benutzen Metallstöcke, um das flüssige Glas aufzunehmen, damit dieses sofort geformt werden kann. Man muss bedenken, dass die Glasstücke aus einer Vielzahl von Schichten bestehen, in denen verschiedene Farben integriert werden können. Mit jeder Glasschicht wird die Skulptur etwas mehr in Form gebracht. Ganz wichtig dabei: Das Glas muss immer wieder aufs Neue erhitzt, geformt und gekühlt werden. Sobald es aus dem Ofen kommt, bleiben den Glaskünstlern nur wenige Sekunden, um das Stück zu bearbeiten.«

LANGER WEG ZUM KUNST-STÃœCK

Damit, finden wir heraus, ist aber noch immer nicht das endgültige Resultat erreicht. Arrivabene weiter: »Das Glas wird im Ofen auf über 1000 Grad Celsius erhitzt. Bevor es seine finale Form erlangen kann, muss es erst abkühlen.« Dabei gibt es aber noch zusätzliche Regeln zu beachten: Das wertvolle Muranoglas droht zu brechen, sollte die Temperatur zu schnell sinken. Deshalb werden die Kunstwerke zwei Tage lang in einen Brennofen verfrachtet. Und voilà – das Endresultat kann schließlich bewundert werden.

Wir durchstöbern weiter den kleinen Handwerksbetrieb, und es ist erstaunlich, mit wie viel Geduld diese Arbeit behaftet sein muss. In jeder Ecke und jedem Winkel stapeln sich etliche gebrochene Figuren, die den Weg in den Verkauf nicht geschafft haben. Geradezu beschaulich wirken die verwunschenen kleinen Manufaktur-Gebäude, die im Staub zu versinken drohen. Viele Öfen sind schon gar nicht mehr in Betrieb, nur die Besten werden noch eingesetzt. Schließlich wird uns der hauseigene Store gezeigt, wo sich Figuren aller Arten, Farben und Größen tummeln und auch verkauft werden. Um das zu erreichen, schuften Giuman und seine Söhne täglich über Stunden, um die vielen Aufträge zeitgerecht erfüllen zu können.

GIACOMETTI ZUR GLAS-BIENNALE 2021

Letzteres hat sich Arrivabene mit zwei neuen Projekten ebenfalls zum Ziel gemacht. Pünktlich zur Glas-Biennale 2021 will er Giacomettis »Der schreitende Mann« und Manzùs »Der Kardinal« finalisieren, die ebenso in den Brennöfen Giumans gefertigt werden. Mit Plastilin wird zunächst die Kardinal-Figur nachgeahmt, bevor nächste Schritte unternommen werden. »So ein außergewöhnliches Projekt zu kreieren, braucht Zeit«, weiß der Glas-Designer aus Erfahrung, und sein Gesichtsausdruck wirkt dabei nachdenklich. »Ich gebe mich erst dann zufrieden, wenn die Figur perfekt ist. Es braucht Wochen, bis ich für mich den richtigen Weg einschlage.«

Perfektion ist in diesem Geschäft die Grundvoraussetzung für Erfolg – umso ärgerlicher, dass sich viele selbst ernannte Künstler nicht an die Regeln in der Lagune halten. »Gutes Design«, so Giberto, »wird kopiert, kopiert und kopiert. Ich sehe so viele Designs meiner Gläser und weiß genau, dass hier einfach abgekupfert wurde.« Was kann man dagegen tun, will LIVING wissen. Anscheinend nicht viel. »Sobald ein Stück nur einen Punkt oder Strich zusätzlich hat, wird dieses Objekt als neues Design und damit als exklusiv erklärt«, beschwert sich Arrivabene zu Recht. »Und >

< nein, leider, man kann nichts dagegen tun. Das sind hier Situationen, die man nicht bekämpfen kann.«

Doch betrachtet man Arrivabenes bildschöne Design-Kreationen, wird schnell klar, dass es sich hier um die tatsächlichen Unikate handelt. Sein kleines, aber feines Unternehmen hat großen Facettenreichtum im Repertoire. Von Gläsern aller Arten und Farben über Vasen und Karaffen bis hin zu Bilderrahmen, Brieföffnern und großartigen Skulpturen können Glas-Liebhaber hier aus dem Vollen schöpfen. Die Beauftragung von individuell kreierten Kollektionen mit gewählter Gravur gehört ebenso zum Geschäftsmodell wie Lieblingsstücke, die Kunden als Sammlerstücke wählen. Die Spielwiese für neue Objekte scheint in Venedig schier unendlich, den Ideen sind keine Grenzen gesetzt.

KLEIN UND UNIQUE IST DAS ZIEL

Ob man künftig auch einen Shop mit Gibertos Glasobjekten besuchen kann, will noch überlegt sein. »Wir kommen derzeit sehr gut mit unserem Businessmodell zurecht. Einen Store zu besitzen, heißt auch, dass man in größeren Mengen produzieren muss, aber ich will klein und unique bleiben.« Das wollen wir auch!